Dienstag, 8. Juli 2008

Leben: Tod der Ansichtskarte (von Realist)

Es war mal wieder soweit. Haus betreten. Briefkasten geleert. Ansichtskarte entdeckt. Eine griechische Insel. Das Motiv gewohnt grausam. Der Text vertraut ("Viele Grüße aus dem sonnigen ... das Wetter ist toll ... das Essen ist prima"). Die erste Unterschrift entlarvt die Dame des (befreundeten) Hauses als Verfasserin (Welch Überraschung). Beim Lesen der zweiten, männlich/krakeligen Signatur, sehe ich vor meinem geistigen Auge die Szene, in der mein Freund, am vermutlich letzten oder vorletzten Urlaubstag, zum wiederholten Mal - und inzwischen verschärft - zum Unterschreiben des Postkartenstapels aufgefordert wird und sich grummelnd fügt. Immerhin hat seine Liebste ja schon den ganzen Tag mit Kartenkauf, Briefmarkenbeschaffung, Adressierung und handschriftlichem Einfügen des immer gleichen Textes verbracht. Und er will nicht zicken, denn auch der jüngste Spross der Familie muss ja noch seinen Servus auf die Karte setzen (inzwischen eigenhändig, was sind wir stolz), da gilt es Vorbild sein.

Ich habe inzwischen den ersten Stock, meine Wohnung und den Papiermülleimer erreicht, womit nach knapp 2.000 km Reise auch die Karte an ihrem Ziel angelangt ist.

Und nicht, dass Sie mich jetzt für undankbar halten! Ich freue mich durchaus, wenn meine Freunde im Urlaub an mich denken, aber sind wir als Gesellschaft nicht inzwischen der Phase entronnen, in der man den neidischen Kollegen mitteilen muss, dass man 2 Wochen an der Adria verbracht hat? Brauche ich eine inhaltslose Karte von jemanden der mich auch sonst 12 Monate lang nicht anruft? (Was im aktuellen Fall übrigens nicht zutrifft) Freue ich mich nicht viel mehr über eine spontan verschickte Mail oder SMS, wenn der Verfasser etwas zu sagen hat - egal, ob er in Kambodscha den Bus verpasst oder am Ballermann einen Korb bekommen hat? Das kostet auch nicht mehr und ist persönlicher. Und wenn es nichts gibt, das man in der Fremde mit mir teilen will? Auch in Ordnung - und nicht weniger spannend als die Erkenntnis, dass das Essen gut und das Wetter toll ist.

Tod der Ansichtskarte! Es lebe die Kommunikation!

Ihr Realist

4 Kommentare:

Optimist hat gesagt…

So, die selbst verordnete Blutdruck-komm-runter-Pause ist vorbei, jetzt kann ich endlich den Eintrag hier kommentieren.

Also erstens ist die These gewagt, dass in Kambodscha die unsrigen Handys funktionieren (Glück gehabt, das stimmt sogar), zweitens hat die SMS kein Bild (was müssen wir wegen Bildern Grabenkriege zwischen Twitter und Twitxr ertragen!), und die sodann unterstellte Ersatz-These, eine MMS zu schreiben, ist abermals technisch gewagt und die Preisgleichheit darf ab hier auch bezweifelt werden, aber, und das ist der Kern der Sache, drittens, der Subtext einer solchen Postkarte lautet doch: "Ich denk' an Dich".

Das zu schreiben bemüht man sich freilich nicht so direkt, wählt stattdessen, das sei Dir zugestanden, allerlei Allgemeines, bemüht das Wetter und das gute Essen, wenns gut läuft den gestrigen Ausflug oder den momentanen Aufenthaltsort.

Aber eine lange Nase, "Hallo, mir gehts gut und dir wahrscheinlich nicht, haha!", dafür fehlt mir der selbstzerstörerische Spürsinn bei dieser Art der Grußübermittlung.

Ist es nicht im Gegenteil viel mehr Wertschätzung, wenn all der skizzierte Aufwand mit Postkarte, Briefmarke und (vor-?)ehelicher Ordnungsruf allein zum Zwecke Deines Angedenkens getrieben wird, anstatt eine einhändig getippte, schnöde, "Ich habe den Bus nach Phnom Penh verpasst"-SMS zu verfassen? Was weisst Du schon über Busse in Kambodscha? Was bringt Dir das mehr, als ein paar Wetter- und Buffetmeldungen? Ihm war wohl langweilig, ist zu vermuten. Ehrt das die SMS mehr als all die sicher gern aufgewendete Mühe mit dem Versand einer Postkarte?

Lang lebe die Ansichtskarte!

Realist hat gesagt…

Tja, nun. Was die gewagte These, das Handy betreffend, angeht, bin ich einfach mal Geek genug, um zu behaupten, dass ich mit niemanden befreundet bin, der irgendwo hinfährt, wo es kein Netz gibt :-)

Was das der SMS fehlende Bild angeht, ist mir das egal - mindestens so viel, wie mir das nichtssagende Bild besagter Ansichtskarte wäre. Zudem: Ist zum Verständnis der Nachricht ein Bild zwingend erforderlich, so bin ich sicher, dass sich der Absender - und hier sind wir wieder bei den Geeks - da zu helfen weiss.

MMS ist hier übrigens nicht mehr das probate Mittel - und auch für dich wird das ab dem 11.7 gelten :-) Oh, ich vergass: Der Herr schickt ja weiterhin Karten.

Den Subtext "ich denk' an dich" kann ich aber - und wirf das ruhig meiner negativ/destruktiven Art vor - nur selten bei Ansichtskarten finden. Eher einen wie: "diese 5 Karten muss ich schreiben, weil die mir auch welche geschrieben haben und diese 4 hier, weil sich das einfach so gehört". Das ist keine Wertschätzung. Disclaimer: Wie alle unblutigen Revolutionen vollzieht sich der Wandel hier wohl in Generationen. Will sagen: Ich werde weder meine Eltern noch Geschwister der geringen Wertschätzung bezichtigen, nur weil sie mir auch Postkarten schicken :-)

Die SMS aus Langeweile... Mmmh. Guter Punkt. Fast! Wenn Langeweile Gelegenheit schafft? Und wenn dann eine Nachricht getippt wird, die nur an mich geht? Na, wenn mir das nicht lieber ist, als Nummer 12 auf einer abzuarbeitenden Postkarten-Adressliste zu sein.

Abgesehen davon schreibt der zwei-Wochen-im-Hotel-Hocker wohl auch bei größter Langeweile keine SMS (Mail, Twitter,...), wohingegen der in-Kambodscha-auf-den-Bus-Warter wohl keine Postkarten schreibt. Zumindest mir nicht. Zumindest DU nicht! All' die Jahre und nicht eine einzige Karte! *seufz*

Nieder mit der Ansichtskarte!

Optimist hat gesagt…

Eine gewagte These jagt die nächste: Damals, als ich Dir keine Karte aus Laos geschickt habe, gabs da kein Roaming! Verzweifelte, vereinsamte Langnasen sind am Grenzfluss zu Thailand und Kambodscha auf und ab marschiert, nur um mal einen Pegel-Strich GSM-Netz zu bekommen, jawoll. Von da aus gesendet hätte eine SMS hohe Wertschätzung verdient! Aber ich schweife ab ...

Wer Karten schreibt, weil er denkt, das es sich so gehört, soll das tun - meinetwegen auch stapelweise, im Rotweinrausch und wenn's sein muss, an der Ägäis und mit Signet des sandburgenbauenden Filius. Wer dann aber sauer ist, dass er selbst keine bekommt, hat nicht begriffen, was er da tut - oder vielleicht doch. Er schreibt sie, um selbst welche zu bekommen, ist also im Grunde seiner gesamten Handlung völlig egoistisch. Und das hat mit "Ich denk' an Dich", soviel muss ich Dir zugestehen, dann nicht mehr viel zu tun.

Die Freude, eine Karte zu bekommen, gewinnt aber mit der abnehmenden Menge der Ansichtskarten - mancherorts muss man sich ja schon umsehen, dass man überhaupt noch welche bekommt - ungemein. Übrigens dürfte ich in meinem Archiv lange suchen, um eine Karte von DIR zu finden.

In diesem Sinne darf ich ein ungenanntes Unternehmen zitieren:

Schreib' mal wieder

Zum Beispiel mir. Dann habe ich ein Sammlerstück. Wenn Du dann endlich mal reich und berühmt bist (Tick Tack!), stoß ich mich daran gesund und verscherble es für eine aberwitzige Summe an Deine blöden Fans :-)

Realist hat gesagt…

Zunächst mal: Nenn' meine Fans nicht "blöd"! :-)

Außerdem treibst du die Diskussion ja in mehrere völlig falsche Richtungen (falls das geht...). Mein Anliegen ist ja nicht die Technisierung des Urlaubsgrußes, sondern schlicht der Hinweis auf seine Sinnlosigkeit und seine potentiellen Gefahren an sich - zumindest in der aktuell verbreiteten Form.

Um also meine letzten, verbleibenden Sozialkontakte zu retten, sei angemerkt, dass ich ja nicht grundsätzlich den Kartenschreiber als Idioten abstemple, noch - im Gegensatz zu dir - behaupte, dass er die Karten schreibt, weil er auch welche will. Oder so. Nein. Vielmehr kritisiere ich den offensichtlich schon tief im Wohlstandsbürger sitzenden Drang, überhaupt Ansichtskarten zu schreiben, "weil man das halt so macht". Wenn man sich dann auf der Postkartenadressliste desselben befindet, dann ist das wahrscheinlich sogar gut. So im Sinne eines sozialen Rankings. Wie Freunde bei Facebook oder Follower bei Twitter. Und ja: Je kürzer die Liste, desto besser, weil elitärer.

Aber: Wann ist denn ein Ort "ansichtskartenwürdig?" Alles außerhalb deutschen Hoheitsgebiets? Und was ist dann mit Mallorca? Was wäre, wenn dir alle deine Freunde jedes Mal eine Karte schicken würden, wenn sie das Land verlassen? Sagen wir, im Durchschnitt, 2-3 mal im Jahr? Was ist denn das für eine "ich-denk-an-dich"-Philosophie, die dann Säckeweise auf dich zugerollt kommt, "weil man das halt so macht"? (Vorausgesetzt natürlich, du hast mehr Freunde als ich. jetzt. noch.) Können die nicht an dich denken, wenn sie Zuhause sind? Du willst eine Karte aus Nürnberg! Ist unterwegs! Aber wehe ich bekomme dann keine von dir! :-)

Im Grunde treiben mich ja aber eher Datenschutzbedenken. Was viele nämlich gar nicht wissen: Eine Postkarte ist nur ungefähr so sicher, wie eine EMail oder ein Formular, auf einer unverschlüsselten Webseite! Vermittels simpler Technologien ist es jedem Angreifer problemlos möglich, die Nachricht mitzulesen! Viel problematischer ist noch das systemimmanente Geo-Tagging, durch das der Absender, neben dem Inhalt und Adressaten seiner Nachricht, auch noch seinen aktuellen Aufenthaltsort verrät und damit ein komplettes Bewegungsprofil seiner selbst erstellt! Fataler noch: Je besser die Karte - vom inhaltlichen Standpunkt aus betrachtet - desto vollständiger das Personenprofil. Selbst der einfachste Fall lässt, durch Abgleich mit lokalen Meteorologiedatenbanken des Absendeorts, Rückschlüsse auf Wettervorlieben zu! Von Präferenzen bei Nahrungsmitteln, finanziellem Status - durch Kartenfrequenz und die reine Wahl des Ortes und Hotels - ganz zu schweigen. Die inhaltlich eher spannendere Karte vom Ballermann, lässt darüber hinaus die Erstellung eines noch tiefer gehenden Persönlichkeitsprofils zu - inklusive Drogenprobleme und sexueller Vorlieben. Die Anzahl der Postkarten pro Urlaub - also die Größe der Ansichtskartenadressliste - lässt Rückschlüsse auf das soziale Netzwerk zu. Und der praktischerweise eingeführte Brauch des "dem-muss-ich-eine-Karte-schreiben-von-dem-habe-ich-auch-eine-bekommen" sorgt noch dafür, dass man dieses Profilnetzwerk über Bekannte von Bekannten hinweg ausweiten kann. linkedIn, Xing & Co. lassen grüßen!

Und da regen sich die Leute über Google auf!
Ihr Realist